Die umstrittene Rolle der Kernenergie auf dem Weg zur Klimaneutralität

von
Viola Pröck

Atomkraftwerk

 

Erst kürzlich wurde auf der 26. Klimakonferenz der UN in Glasgow (COP 26) über die Minderung der Kohleverstromung und den Ausbau alternativer Erzeugungstechnologien diskutiert, um die Grundlage für eine klimaneutrale Wirtschaft der Zukunft zu legen. Nachdem der Fokus dabei in den vergangenen Jahren vor allem auf den erneuerbaren Energien lag, erlebt die Debatte über die Rolle von Kernenergie aktuell eine Renaissance.

Vernetzen Sie sich mit Viola Pröck auf LinkedIn

Befürworter der Technologie sehen in ihr eine Möglichkeit, verlässlich und emissionsarm Strom zu produzieren. Gegner weisen auf die Risiken der Technologie und die Herausforderungen in Bezug auf den langfristigen Umgang mit den radioaktiven Abfällen hin. In Europa stehen Frankreich und Deutschland exemplarisch für die beiden Pole der Debatte. Während Frankreichs Präsident Macron bereits ein Programm zur Erneuerung der französischen Kernkraftwerksflotte angekündigt hat, steht Deutschland zu seinem Beschluss, die letzten Kernkraftwerke 2022 vom Netz zu nehmen.

Vor dem Hintergrund der europäischen Taxonomie-Diskussion, die Investitionen gemäß Nachhaltigkeitskriterien klassifiziert, und mit Blick auf die globale Situation und Annahmen der Internationalen Energieagentur (IEA) zur Rolle der Kernenergie im Strommix der Zukunft, betrachten wir die Argumente für und wider die Kernenergie am Beispiel Frankreichs und Deutschlands.

Annahmen zur Entwicklung des globalen Strommix

In ihrer Szenario-Analyse und Roadmap für eine klimaneutrale Weltwirtschaft im Jahre 2050 betont die IEA die enorme Bedeutung der Energieeffizienz und des massiven Einsatzes erneuerbarer Energien. Das gilt gerade auch im Kontext der Sektorenkopplung, also der Elektrifizierung und Dekarbonisierung des Verkehrs- und Wärmesektors etwa durch Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen, die einen massiven Ausbau global installierter Leistung erneuerbarer Energien bis 2030 erfordert. Notwendig seien zusätzliche 630 Gigawatt Fotovoltaik und 390 Gigawatt Windenergie – und das pro Jahr.

Aus Sicht der IEA werden Wasserkraft und Kernenergie als die aktuell größten Quellen einer emissionsarmen Stromerzeugung eine essenzielle Grundlage für die globale Transformation des Energiesystems bilden. Bis 2050 werden fast 90 Prozent der weltweiten Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen stammen, rechnet die IEA. Der größte Restanteil entfalle dann auf die Kernenergie, wobei der Anteil der Technologie am Strommix von Land zu Land unterschiedlich ausfallen könne.

Der künftige Energiemix Europas und die Taxonomie

In der EU garantieren die Verträge der Staatengemeinschaft ihren Mitgliedstaaten eine große Unabhängigkeit bei der Gestaltung ihres Energiemixes. Der Vertrag von Lissabon schreibt vor, dass Maßnahmen mit besonderer Wirkung auf die Wahl bestimmter Energiequellen (Energiemix) und die allgemeine Struktur der Energieversorgung nur einstimmig beschlossen werden können. Ergebnis dieser Regelung wie auch historischer Entscheidungen in den Mitgliedstaaten ist eine große Diversität, wenn es um den Kraftwerkspark und den Erzeugungsmix geht.

Gleichzeitig nehmen gemeinsame europäische Regelungen seit Längerem Einfluss auf die Energiepolitik der Mitgliedstaaten, wie konkrete Zielsetzungen für den Ausbau der Erneuerbaren oder Anreize zur Minderung einer CO₂-intensiven Stromerzeugung beispielsweise durch den Europäischen Emissionshandel (ETS) zeigen. Über ein weiteres Anreizsystem zur Förderung nachhaltiger Investitionen wird dagegen aktuell viel beraten und gestritten: die EU-Klimataxonomie. Als zentraler Teil des European Green Deals zur Umsetzung der Klimaneutralität bis 2050 regelt die Taxonomie, welche Investitionen in der EU zukünftig als nachhaltig gelten sollen. Riesige Finanzströme werden sich an ihrer Klassifikation  orientieren und damit auch den Energiemix der Zukunft mitbestimmen. Während Frankreich die Kernenergie in die Taxonomie aufnehmen will, ist Deutschland dagegen. Aber welche Argumente werden kommunikativ ins Feld geführt?

Frankreich: Pro Kernenergie

Ein zentrales Argument der Kernenergie-Befürworter in Frankreich ist die Versorgungssicherheit, wie ein Blick in französische Medien zeigt. Ein modernes Land und eine zukunftsorientierte Wirtschaft könne nicht auf eine unsichere, volatile Stromerzeugung bauen. Die Angst vor einem Blackout, der Wirtschaft und Gesellschaft auf der Stelle lahmlegen und damit irreparable Schäden herbeiführen könnte, überwiegt hier gegenüber etwaigen Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Endlagerung.

Kleine und modulare Reaktoren (small modular reactors, SMR) seien zudem wesentlich sicherer als bestehende Anlagen und durch Standardisierung auch zu deutlich geringeren Preisen zu errichten. Günstig und sicher – mit diesen Argumenten überzeugen Atom-Befürworter die französische Bevölkerung seit Jahrzehnten: Mit 56 Reaktoren erzeugt das Land rund 70 Prozent seines Stromverbrauchs auf Basis von Kernenergie.

Das Hauptargument der Befürworter ist allerdings die emissionsarme Energieerzeugung. Verfechter erklären, dass Frankreich vor allem dank seines Atomprogramms seine CO₂-Emissionen zwischen 1980 und 1985 um 20 Prozent senken konnte.[1] Der Verschmutzungsgrad einer Kilowattstunde sei mit durchschnittlich 80g CO₂ sehr gering, vor allem im Vergleich zu einer in Deutschland erzeugten Kilowattstunde, die mehr als 500g CO₂ in die Atmosphäre bläst.[2] Schuld daran sind vor allem Deutschlands Kohlekraftwerke. Klimaneutralität bis 2050 ohne Atomenergie sei schlichtweg nicht zu schaffen, so das Credo.

Deutschland: Contra Kernenergie

Der Anteil der Kernenergie in Deutschland war nie so hoch wie jener in Frankreich. 2019 betrug er noch knapp zwölf Prozent der Stromerzeugung. Historisch wurde hierzulande immer stark auf den heimischen Energieträger Braunkohle gesetzt. Gesellschaftlich entwickelte sich in Deutschland im Vergleich zu Frankreich zudem eine starke Anti-Atomkraft-Bewegung, die in Form der Partei Bündnis 90/Die Grünen auch in den Bundestag einzog. Die Konsequenz war der erste Beschluss zum Atomausstieg unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder (SPD).

Nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima beschloss die schwarz-gelbe Regierung von Angela Merkel (CDU) 2011 einen beschleunigten Atomausstieg und legte die ältesten deutschen Reaktoren direkt still. Die Ereignisse in Japan haben die weit verbreitete Einstellung in Deutschland, dass die Restrisiken der Kernenergie deren Einsatz unverantwortbar machen, verstärkt. Auch die Frage der Endlagerung wird in Deutschland im Vergleich zu Frankreich stärker diskutiert. Die entsprechenden Planungen werden durch eine informierte Öffentlichkeit, Verbände und Nichtregierungsorganisationen kritisch begleitet. Alles in allem steht einer Renaissance der Kernenergie in Deutschland also eine breite gesellschaftliche Ablehnung der Technologie entgegen – unabhängig von neuen Reaktortypen. Und so reagiert man in Deutschland bisweilen verwundert bis geschockt auf den von Frankreich geführten Vorstoß auf EU-Ebene.

Höchst fraglich ist, ob der Bau der von Frankreich angestrebten SMR überhaupt rechtzeitig Einfluss auf die Erreichung der Klimaziele nehmen könne. Viel zu lange würde der Bau und der Netzanschluss dauern, teuer seien die Kraftwerke dazu. Diese Ressourcen sollten vielmehr in einen raschen Ausbau der Erneuerbaren fließen. Hinzu kommen die Anfälligkeit für Störungen und Bedrohungen durch Naturkatastrophen und Cyberangriffe und damit ein enormes Sicherheitsrisiko für große Teile der Bevölkerung.

Taxonomie-Entscheidung mit weitreichenden Folgen

Am Ende geht es bei der Debatte, über Anerkennung oder Nichtanerkennung von Nuklearenergie als nachhaltige Technologie in der EU-Taxonomie, aber um mehr als die Zukunft des Strommixes in den Mitgliedstaaten. Frankreichs Energiepolitik ist nicht von machtpolitischen Interessen zu trennen. Frankreich ist eine Atommacht – und bestrebt, dies auch zu bleiben. Die strategische Zukunft hänge von der Atomindustrie ab, wie Frankreichs Präsident Macron betont.

Die Frage, ob Kernenergie zukünftig als nachhaltig klassifiziert sein wird, hat auch Implikationen auf die Wasserstoffwirtschaft – und damit auf die Industriepolitik und deren wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Wird Kernenergie als nachhaltig eingestuft, dürfte auch auf Basis von Atomstrom erzeugter Wasserstoff als nachhaltig gewertet werden. Länder mit einem hohen Anteil von Kernenergie am Strommix hätten damit einen eklatanten Vorsprung auf dem Weg zur Wasserstoffwirtschaft. So könnte Frankreich auf Basis von Atomstrom beispielsweise schon grünen Stahl herstellen, während Deutschland noch vor der Aufgabe steht, ausreichend Grünstrom zur Wasserstoffherstellung zu produzieren oder die Voraussetzungen für den Import von grünem Wasserstoff zu schaffen. Die Debatte ist also mit einer ganzen Kette an Folgen für die jeweiligen Volkswirtschaften und deren Wettbewerbsfähigkeit verknüpft.

Neben wirtschaftlichen Faktoren ist aber noch ein weiterer Punkt zu bedenken: Wird eine so umstrittene Technologie wie die Kernenergie in die Taxonmie aufgenommen, könnte dies die wissenschaftliche Integrität des Nachhaltigkeits-Labels untergraben. Einfacher formuliert: Wenn Technologien zu Klimarettern erkoren werden, die offensichtlich diesen Ansprüchen nicht zweifelsfrei genügen, leidet die Glaubwürdigkeit. Der NABU spricht in diesem Kontext schon von institutionellem Greenwashing. Eine Nachhaltigkeitstaxonomie, an der dann doch letztendlich vorbei agiert würde, bedroht den gesamten Green Deal und damit auch die europäische Rolle in der globalen Klimadiplomatie – mit erheblichen Folgen für die Klima- und Umweltschutzziele.

[1] Les Echos: Les petits réacteurs nucléaires viendront-ils à temps pour sauver le climat?, 22/10/2021

[2] Ouest France: «L’énergie nucléaire pollue relativement peu», 02/11/2021

 

Für business-relevante Kommunikationsinhalte wie diesen, melden Sie sich doch zu unserem Newsletter “FleishmanHillard Quarterly” an, folgen FleishmanHillard Germany auf LinkedIn, lernen unser Team auf Instagram kennen oder besuchen unseren YouTube-Kanal.