Die gesellschaftliche Debatte in Deutschland
Die gesellschaftliche Debatte in Deutschland funktioniert immer mehr nach den Regeln des Stammtischs. Das nervt. Die zunehmende Skandalisierung kostet Glaubwürdigkeit und produziert zunehmende Gleichgültigkeit. Sie überlässt das Feld denjenigen, die ihre Anliegen am lautesten und schrillsten vortragen – zum Leidwesen der Gesellschaft.
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Die Aufregung steigt. Unabhängig von Bundestagswahl oder Fußball EM. Sie steigt mit jedem neuen Thema, das (sozial)medial durch die Republik getrieben wird. Die Anzahl der tatsächlichen oder vermeintlichen Aufreger war noch nie so groß, nie schlugen die Wogen mit jeder neuen Empörung höher als gegenwärtig. Die Thematik an sich ist dabei zunächst nicht entscheidend. Ob Fußballstadionfarbe, Corona-Masken, Lebenslauf von Politiker/-innen Gender, Impfstoff oder Klima: Die Skandalisierung als effektiver Hebel zur Durchsetzung eigener Interessen hat Hochkonjunktur wie nie.
Die Ursprünge dieser Entwicklung liegen in der oft beschriebenen und analysierten freien Verfügbarkeit digitaler Kommunikationskanäle für alle und dem gleichzeitigen Wegfall ehemaliger Filter- und Gatekeeper-Funktionen beim Management von Informations- und Nachrichtenströmen globaler Dimension. Der Versuch, in einer Debatte Gehör für die eigenen Anliegen zu finden ist legitim. Die Versuchung, das bereits stark vorhandene Grundgetöse durch immer lautere Empörung und extremere Skandalisierung zu übertönen, ist jedoch zunehmend nervig.
Ähnlich den simplen Regeln einer Stammtischdebatte setzt sich durch, wer auch zu fortgeschrittener Stunde den klarsten Kopf behält, stimmliche Überlegenheit beweist und radikale Positionen möglichst massentauglich formulieren kann. Wenn es den Helden der eigenen Stammtischblase dann noch gelingt, möglichst hörbare Unterstützung von den anderen anwesenden Gästen in Form von Likes einzusammeln, ist die Deutungshoheit über die sprichwörtliche Sau, die da gerade durchs Dorf getrieben wird, gewährleistet.
Die Dynamik dieser Debattenform belohnt Zuspitzung, Vereinfachung, Radikalisierung. Nuancen und Zwischentöne bleiben ungehört, Zweifel werden ein Zeichen von Schwäche. Die Komplexität der Realität wird durch den Filter des eigenen Weltbildes gepresst und innerhalb der virtuellen Community verstärkt. Zusätzlich aufgeladen mit der moralischen Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, zieht man gemeinsam in den Kampf um die Meinungsführerschaft.
Die Realität des digital aufgeladenen öffentlichen Diskurses der Gegenwart zeigt erstaunliche Parallelen zu den Prinzipien der Debattenkultur in kommunalen Gemeinschaften des vordigitalen Zeitalters. Die vom einstigen CSU-Generalsekretär Erwin Huber als „Lufthoheit über den Stammtischen“ bezeichnete Deutungshoheit hat sich im digitalen Zeitalter in die sozialen Medien verlagert. Dabei sind die Regeln oftmals ähnlich archaisch, die Argumentationsmuster höchst emotional und von Betroffenheit gekennzeichnet. Die eigene Position wird vielfach mit einem moralischen Impetus belegt, der es schwer möglich macht, die Hand zum Kompromiss über den Tisch zu reichen.
Der Qualität des Diskurses, der Kompromiss- und Konsensfähigkeit und damit der Lösungsfindung insgesamt ist diese Entwicklung kaum zuträglich. Im Gegenteil: Diskurse im virtuellen Raum sind oftmals heftiger im Inhalt, härter in der Wortwahl, unversöhnlicher im Ton, entgrenzter, hitziger. Sie überhöhen den Einfluss lauter Minderheiten und produzieren bei vielen ein Gefühl der Irrelevanz, Überforderung und Fremdbestimmung.
Wir brauchen dringend einen Konsens über eine neue Debattenkultur für den von den Gesetzmäßigkeiten digitaler Medien geprägten öffentlichen Diskurs. Es sollte ein Ausgleich gefunden werden zwischen Überpolarisierung auf der einen und der Tabuisierung bestimmter Themen oder Personen durch überbordende Political Correctness oder Cancel Culture auf der anderen Seite. Dazu müssen alle Protagonisten einen ehrlichen und selbstkritischen Beitrag leisten, ohne gleich mit dem Finger auf die jeweils anderen zu zeigen. Dies gilt für (Social Media-) Plattformbetreiber genauso wie für Medienhäuser, Verlage, Parteien, Unternehmen, Interessensvertretungen, Agenturen oder Bildungseinrichtungen. Wir brauchen einen Kodex für die digitale Debatte des 21. Jahrhunderts. Nur so werden wir den offenen Diskurs als wesentlichen Grundpfeiler unserer offenen Gesellschaft auf Dauer erhalten und vor weiterer Radikalisierung, Marginalisierung sowie Akzeptanzverlust schützen.
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Hanning Kempe ist seit 2012 CEO von FleishmanHillard in Deutschland. Mit über 25 Jahren in der Kommunikationsbranche ist er ein gesuchter Ratgeber für Themen wie Dialog Management, Unternehmensstrategie, Unternehmenskommunikation, Change-und Krisenkommunikation sowie Issues Management. Sein Schwerpunkt liegt auf den Branchen...
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