Full-Stack-Citizenship und die neue Welle der Politisierung der Unternehmenskommunikation
In den vergangenen Jahren haben sich immer mehr Unternehmen entschieden, nicht nur das Verhältnis zu ihren klassischen Anspruchsgruppen (Kapitalgeber, Mitarbeitende, Kund:innen) systematisch zu managen, sondern auch das Verhältnis zu politischen Stakeholdern. Der Aufbau von Public Affairs-Kompetenz folgt der Einsicht, dass Geschäftsergebnisse und Reputation auch von den Wahrnehmungen, Erwartungen und Entscheidungen von Ministerien, Parlamenten, NGOs, Think Tanks und weiteren politischen Organisationen abhängig sind.
Doch dies könnte nur der erste Schritt der Politisierung von Unternehmen gewesen sein. Denn immer mehr Menschen fordern eine klare politische Haltung und Positionierung von Unternehmen. Aktuelle Studien zeigen, dass mehr als jede:r zweite Bürger:in Deutschlands eine klare politische Haltung und aktives Engagement bei gesellschaftlichen Herausforderungen von Unternehmen erwartet.
Dr. Dieter Zinnbauer hat diesen Gedanken und seine Implikationen für Unternehmen und Gesellschaft in einem Working Paper mit dem Titel „Full-Stack Citizenship 2028“ (Oktober 2023) ausgearbeitet. Laut Zinnbauer befinden wir uns in einem Wandel, an dessen Ende Bürger:innen ihr wirtschaftliches Leben als Arbeitnehmener:innen, als Konsument:innen und als Sparer:innen/Kapitalgeber:innen in hohem Maße mit ihrer politischen Überzeugung verbinden wollen und können.
Unternehmen werden laut Zinnbauer infolgedessen ein klareres politisches Profil entwickeln und eine werteorientierte politische Praxis ausarbeiten, um den Erwartungen an die politische Verantwortung zukünftig gerecht zu werden. Dies hätte offensichtlich erhebliche Implikationen für sämtliche Disziplinen der Unternehmenskommunikation: Nicht nur Public Affairs, auch PR, Employer Branding, interne Kommunikation, Brand- und Finanzmarktkommunikation werden zunehmend politisch. Nicht zuletzt werden auch unternehmensstrategische Fragen politischer.
Das folgende Interview von Dr. Thies Clausen mit Dr. Dieter Zinnbauer gibt einen Einblick in dieses Denken.
Dieter, was ist „Full-Stack Citizenship“?
Das Konzept der „Full-Stack Citizenship“ meint eine tiefere und umfassendere Form der politischen Teilhabe, bei der jede:r Einzelne ihr oder sein wirtschaftliches Leben mit persönlichen politischen Werten in Einklang bringt. Die klassische Trennung der Rolle des (politischen) Staatsbürgers und der des Wirtschaftssubjekts (des „Haushalts“) wird aufgehoben, Menschen wollen und können ihre politischen Überzeugungen vollständig in ihren Rollen als Arbeitnehmer:innen, Verbraucher:innen, Sparer:innen und Investor:innen zum Ausdruck bringen.
Ermöglicht wird dies durch die Entstehung eines sich gegenwärtig herausbildenden politischen Marktplatzes, auf dem Unternehmen ein schärferes politisches Profil entwickeln und sich in einer wertorientierten politischen Praxis engagieren. Diese Art der Citizenship ermöglicht allen, ihre politischen Werte nicht nur durch traditionelle Mittel wie Wahlen und ehrenamtliches Engagement zum Ausdruck zu bringen, sondern auch durch wirtschaftliches Handeln. Hinter dieser Herausbildung von „Full-Stack Citizenship“ stehen gleich mehrere Dynamiken.
Welche Dynamiken sind das konkret?
Zunehmender Populismus und die politische Polarisierung der letzten Jahre spielen hier eine große Rolle. Diese beiden Probleme haben unter anderem dazu geführt, dass viele Länder einen demokratischen Rückschritt vollzogen haben – wie gerade wieder bei der jüngsten Wahl in den Niederlanden, bei der die rechte Kraft gewonnen hat. Politik wird nicht mehr nur als Verhandlung wirtschaftlicher und sozialer Fragen gesehen, sondern als Kampf um grundlegende Werte und die Struktur der Gesellschaft.
Diese Entwicklungen führen dazu, dass Bürger:innen Bedenken hinsichtlich der Effizienz der Regierungen entwickeln. Die wachsende Besorgnis über die Effektivität und Reaktionsfähigkeit der Regierungen hat dazu geführt, dass die Menschen nach alternativen Wegen für politisches Engagement suchen.
Globale Probleme wie der Klimawandel, wirtschaftlicher Abschwung und soziale Ungleichheiten verstärken diese Bedenken zusätzlich. Dass es ein kollektives Handeln und Engagement bedarf, um diese Probleme anzugehen, wurde besonders in den letzten Jahren deutlich. Mittlerweile stehen diese Krisen nicht mehr nur auf der politischen, sondern eben auch auf der gesellschaftlichen Agenda.
Lass uns daran direkt anknüpfen: Wie entwickelt sich politische Teilhabe?
Meiner Meinung nach leben wir in einer Gesellschaft, in der das Konzept einer politischen Teilhabe nur eingeschränkt gelebt wird. Das politische Engagement der Bürger:innen beschränkt sich primär auf die Teilnahme an Wahlen, und seltener, aus ehrenamtlicher Tätigkeit.
Gleichzeitig können wir beobachten, dass vor allem Unternehmen mit progressiven Ansichten sich vermehrt aus politischer Überzeugung, aber auch aus geschäftlichen Gründen motiviert, um eine strategische Markenpositionierung bemühen. Außerdem äußern sich Unternehmen mittlerweile oft auch in den sozialen Medien zu aktuellen Ereignissen. Genau dieses Vorgehen wird in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Was erwartest Du von der Zukunft?
Wie in dem Paper beschrieben, erwarte ich in den nächsten fünf Jahren eine tiefgreifende Veränderung unseres politischen Lebens. Menschen werden in allen Bereichen seines oder ihres Lebens – Investitionen, Berufswahl, Konsum – politische Statements setzen wollen. Technologie und staatliche Transparenzvorgaben werden dies möglich machen.
Unternehmen sollten, vor allem mit Blick auf die ESG-Kriterien (Environment, Social, Governance), ihren Corporate Purpose ausbauen. Unternehmen kennen zwar bereits heute schon zunehmend ihre Rolle und Verantwortung bei der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme an, um aber für „Full-Stack Citizenship“ bereit zu sein, werden sie ihre Bemühungen deutlich steigern müssen.
Über Dr. Dieter Zinnbauer
Dr. Dieter Zinnbauer ist seit 2019 Visiting Fellow an der Copenhagen Business School. Seinen PhD machte er an der London School of Economics und arbeitete danach an verschiedenen Universitäten, Institutionen und Organisationen. Seine Forschung und Arbeiten konzentrieren sich auf das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik, sowie Governance, Corporate Citizenship und politische Innovation.
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Dr. Thies Clausen ist ab dem 1. Juli 2024 Senior Vice President & Partner Energie & Klima Deutschland/EMEA bei FleishmanHillard. Zuvor unterstützte er als Partner und Head of Corporate & Public Affairs vor allem Unternehmen bei der Kommunikation mit politischen...